Motivation

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„Die Operation ist gut verlaufen. Nur der sechste Hirnnerv ist etwas beleidigt.“ Stella sah den Chirurgen irritiert an. Er stand zweimal vor ihr.
„Der ist für die Augenkoordination zuständig“, erläuterte er. „Deshalb schielen Sie jetzt. Das vergeht wieder.“
Stella sah ihr Spiegelbild an. Die linke Iris saß fast im inneren Augenwinkel. Beleidigter sechster Hirnnerv, so sah das also aus. Wie aus einem Horrorfilm. Die Doppelbilder, wegen dem sie panisch ihren Urlaub in Carcassonne abgebrochen hatte, waren viel schlimmer als vor der OP. Meningeom, hatte die Diagnose gelautet. Hirnhauttumor! Der muss raus. Der Tumor würde beginnen das Atemzentrum abzudrücken.
Es hatte keine Alternative zur Operation gegeben. Die Ärzte hatten den Bohrer angesetzt und ihren Schädel geöffnet. Mit Erfolg. Der Tumor war weg. Schielen war nur ein kleiner Kollateralschaden.
Stella sah die Frau, die das Krankenzimmer betrat, nicht nur doppelt, sondern auch tränenverschleiert.
„Hallo Frau Aigner, ich bin die Orthoptistin. Kunz ist mein Name.
Sie haben die Operation glücklich überstanden?“
„Glücklich?“ Stella weinte weiter. „Ich schaue aus wie ein Monster. Mein Sohn sagt Piratenmama zu mir.“
Wütend warf sie die Augenklappe hin. Die Frau und ihr Doppelbild lachten.
„Das schaffen wir schon. Ich zeige ihnen Übungen und sie trainieren fleißig. Bald sehen Sie wieder normal.“
Und Stella biss die Zähne zusammen und übte. Anfangs hatte sie gar keine Kontrolle über den Augenmuskel. Doch nach und nach wurde es besser. Nach drei Monaten war die Iris schon 15° weiter gerückt.
Und als sie ein halbes Jahr später zur Nachuntersuchung kam, war die Iris da, wo sie hingehörte in der Mitte des Auges.
Ihr Operateur war baff. Er bekannte, dass er damit nicht gerechnet hatte. „Der Nerv war stark geschädigt. Ich dachte, wir müssen noch mal operieren“, sagte er.
Stella konnte es nicht fassen. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie nie so verbissen trainiert. Sie hätte die Flinte ins Korn geworfen und sich bemitleidet.
Auf dem Heimweg sah sie Frau Kunz in der Cafeteria sitzen. Stella zögerte kurz. Dann gab sie sich einen Ruck und ging hin.
„Kennen Sie mich noch? Sie haben mir nach meiner Operation Übungen gegen das Schielen gezeigt.“
Frau Kunz hob den Kopf. Stella sah, das Erkennen in ihren Augen. Und auch Erstaunen.
„Danke für ihre Motivation“, sagte sie. „Wenn ich gewusst hätte, dass es so schlimm war, hätte ich mich nie aufgerafft, soviel zu trainieren.“ Frau Kunz grinste. „Der Wille versetzt Berge. Und Augen.“