Erstbesteigung

Henrietta war noch vor Sonnenaufgang aufgewacht. Das Wetter war perfekt für ihr Vorhaben. Ihre Finger kribbelten vor Vorfreude und sie schwang sich voll Energie aus dem Bett.
Von ihrem Fenster aus konnte sie ihr Ziel nicht sehen. Seit Wochen, nein seit Monaten hatte sie sich vorbereitet. Hatte trainiert und verschiedene Routen ausprobiert. Und heute würde sie es wagen. Vielleicht war sie heute Abend tot, doch der brennende Wunsch in ihrem Herzen, diese Herausforderung zu bestehen war größer als die Angst zu versagen.
Ihren Rucksack hatte sie schon am Abend gepackt. Nun füllte sie nur noch ein paar Flaschen mit Wasser und stürzte sich in ihr Abenteuer.
Zacarias, der Straßenfeger, winkte ihr zu. „He Senhorita Carstairs, wohin geht’s schon so früh am Morgen?“
Henrietta grüßte zurück. „Auf den Pão de Açúcar, den Zuckerhut.“
Zacarias sah ihr mit offenem Mund hinterher, doch Henrietta bemerkte es nicht.
Der Anstieg war noch einfach. Es ging durch den Urwald und Henriettas größter Kampf war, der mit den Stechmücken, die sie attackierten. Doch nach ein paar Stunden hatte sie den schwersten und gefährlichsten Teil ihres Abenteuers erreicht. Sie band den Rock nach oben. Die Hosen, die sie darunter trug, sollten ihre Beine vor den Abschürfungen schützen, die sie sich beim Rest ihrer Tour sonst einhandeln würde.
Mit jedem Fuß wurde es schwerer. Henrietta nahm die Hände zu Hilfe und fluchte als sie sich den Nagel abbrach.
Einmal rutschte sie 10 Fuß ab und landete mit einem satten Plumps mit ihrem Hintern auf einem Felsvorsprung.
Sie sah in die Tiefe die unter ihr Lag. Sollte sie aufgeben?
Nach einem Augenblick biss sie die Zähne zusammen, betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den Fels vor ihr und änderte nach einiger Überlegung die Route leicht. Endlich nach den letzten Zügen stand sie auf dem Gipfel.
Der brasilianische Urwald, die brodelnde Stadt und das glitzernde Meer lagen unter ihr.
Henrietta setzte sich erschöpft auf den Boden, nahm die letzte Flasche Wasser aus ihrem Proviantsack und trank mit gierigen Schlucken die warme Flüssigkeit.
Sie hatte es geschafft. Den unbezwingbaren Pão de Açúcar bezwungen. Aus dem Rucksack packte sie einen zusammensteckbaren Stab und die Union Jack. Sie suchte sich einen geeigneten Standort und pflanzte die Fahne auf. Bestimmt war sie von der Stadt aus sichtbar. Auf dem Holz des Fahnenstocks stand:
Henrietta Carstairs, 1817.