Endlich geimpft

„Orlando Serrell! Orlando Serrell!“ Der alte Mann brabbelte vor sich hin.
„Was sagst du denn da Opa?“
Tim sah seinen Großvater, der zum Fenster hinausblickte, fragend an.
Die Pflegerin, die am Nachbartisch stand und einen anderen Patienten das Essen reichte, horchte auf.
„Orlando Serrell, das ist ein Mann der sich an alles aus seinem Leben erinnert. Jede kleinste Kleinigkeit. Am Samstag hat es geregnet, da lief am Nachmittag der Fernseher. Es ging in dem Fernsehreport um Savants. Menschen mit besonderen Begabungen.“
Tim nickte.
„Jemand, der sich an alles in seinem Leben erinnert. Ganz anders als du Opa, oder?“
Er strich dem alten Mann sanft über die Wange.
„Du hast leider fast alles aus deinem Leben vergessen.“
Sein Großvater sah ihn fragend an. „Wer...?“
„Ich bin es, Tim. Dein Enkel.“
Der alte Mann sah zur Pflegerin hin, die den andern Patienten nach draußen auf die Terrasse geschoben hatte und nun zu den beiden zurückkam.
„Er fragt oft nach ihnen Herr Marl, wissen Sie! Schön, dass sie jetzt wieder kommen dürfen, er hat sie vermisst.“
Tim sah sie dankbar an.
„Ich ihn auch. Ich bin so froh, dass ich jetzt geimpft bin.“
Er hob den USB-Stick hoch, den er mitgebracht hatte.
„Ich hab seine Lieblingsfilme draufgeladen. Würden sie es ihm ab und zu abspielen?“
Die Pflegerin nahm den Stick.
„Machen wir gerne, Herr Marl.“
Tim setzte sich neben den alten Mann.
„Ich lese Dir etwas vor Opa. Auf dem Speicher habe ich das Buch gefunden, das du mir immer vorgelesen hast, als ich klein war.“
Er nahm ein Bilderbuch aus seinem Rucksack und hielt es so, dass der Mann die Zeichnungen sah.
„Im Schlaraffenland fließen Milch- und Honigflüsse. An den Bäumen wachsen Kuchenstücke und wenn man den Mund aufreißt fliegen einem gebratene Tauben hinein. Es soll schon Leute gegeben haben, die sich an einer Taube verschluckt haben, nur weil sie gähnen mussten.“
Er hielt inne, als sein Großvater ihn am Ärmel fasste.
„Was ist los Opa, gefällt es Dir nicht?“
Über das sonst so unbeteiligte Gesicht des alten Mannes erstrahlte ein Lachen. Er sah den Jüngeren aufmerksam an und sagte.
„Tim! Du bist mein Tim!“
Eine Träne rollte über seine Wange.